Autor: Christian Jostmann
Kürzlich im Rathaus einer Kleinstadt am Lande, unweit von Wien: Verkehrsverhandlung. Anwesend sind die Spitzen der Lokalpolitik, Vertreter der Stadtverwaltung, der Leiter der Straßenmeisterei. Die Bezirkshauptmannschaft hat Beamte geschickt, das Land Niederösterreich einen Experten für Verkehrssicherheit und die Radlobby einen interessierten Bürger.
Die versammelten Herrschaften erörtern die Problematik einer Zufahrtsstraße, die kurvig und stellenweise so schmal ist, dass Radfahrende den motorisierten Verkehr ausbremsen und Gefahr laufen, mit selbigem in Konflikt zu geraten. Zu ihrem eigenen Wohle hat man daher bislang von allen Maßnahmen Abstand genommen, die Radler*innen womöglich zum Befahren der Straße ermuntern könnten, wie zum Beispiel ein markierter Radfahrstreifen.
Doch die Zeiten ändern sich, auch in einer kleinen Stadt am Lande. Klimawandel, Zuzug aus Wien, von Jahr zu Jahr anschwellender Auto- und Radverkehr sowie die Vorgaben der Landespolitik erzeugen vor Ort einen gewissen Handlungsdruck. Hat sich doch das Land Niederösterreich ein stolzes Ziel gesetzt: den Anteil des Radverkehrs bis 2030 von 7% auf 14% zu verdoppeln. Um es zu erreichen, wurden kühne Strategiepapiere verfasst, auf dem Reißbrett „Rad-Basisnetze“ entworfen, sogar ein „Mobility Lab“ erschaffen. Zig Fördermillionen warten nur auf ihren Abruf.
Der Bürgermeister der Stadt beauftragt also ein Verkehrsplanungsbüro, ein Konzept zu entwickeln, wie man besagte Straße für radelnde Menschen sicherer und attraktiver machen könnte. Die Verkehrsplaner wälzen Studien, erheben Daten, zeichnen Pläne. Monatelang rauchen die Köpfe. Endlich präsentieren die Planer ihren Vorschlag: An beiden Straßenrändern sollen sogenannte Mehrzweckstreifen markiert und rot eingefärbt werden. Die Streifen sind für Fahrräder, dürfen aber, wenn gerade keines dort fährt, auch von Autos benutzt werden, etwa um Gegenverkehr auszuweichen. Außerdem sieht das Konzept vor, die Höchstgeschwindigkeit von 50 auf 30 km/h zu reduzieren.
Riskantes Verkehrsexperiment? (Beispielbild aus einem anderen Teil Europas)
Bild: Maurits90, CC0, via Wikimedia Commons
Das Konzept überzeugt den Bürgermeister und den Verkehrsstadtrat. Auch die Amtssachverständigen der Bezirkshauptmannschaft haben keine Bedenken, zumal die vorgeschlagene Lösung seit langem bewährter Praxis in anderen Teilen Europas, ja selbst Österreichs entspricht. Es besteht mithin gute Aussicht, dass das Konzept unbeschadet durch die Verkehrsverhandlung kommt.
Da ergreift der Experte vom Land Niederösterreich das Wort.
Zwischen den Mehrzweckstreifen bleibe eine viel zu schmale Kernfahrbahn übrig, sagt er. Da könne es zu Frontalkollisionen von Autos kommen, deren Lenker*innen womöglich nicht wagen würden, den rot gefärbten Mehrzweckstreifen zu befahren. Sowas sei ein riskantes Experiment mit unsicherem Ausgang, quasi mit den Verkehrsteilnehmern als Versuchskaninchen. Und überhaupt könne man nicht einfach so Tempo 30 verordnen. Laut StVO gelte innerorts eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Wer sie ohne stichhaltige Begründung senke, mache sich „eines Rechtsbruchs schuldig“.
Das versammelte Dutzend an Politikern, Beamten und Bürgern schweigt erschüttert. Allein der Bürgermeister wirft sich in die Bresche: Ob das Konzept nicht trotzdem eine Verbesserung bedeute gegenüber dem Status quo? Die Situation auf dieser Straße sei nicht mehr tragbar. Als Bürgermeister brauche er eine Lösung, und wenn das vorhandene „Portfolio“ keine praktikable Lösung enthalte, müsse man halt das Portfolio erweitern. Ob es denn „erst einen Toten“ brauche, damit sich etwas bewege … ?
Zwischen Bürgermeister und Experten entbrennt eine Diskussion.
Der Experte des Landes erklärt: „Irgendwas tun“ müsse man wohl, das sehe auch er so. Eine Lösung aus dem Hut zaubern könne er aber nicht. Er schlägt daher erst einmal vor, erneut den Verkehr zu messen, um „eine bessere Datengrundlage“ zu haben, und auf dieser Basis dann alternative Ideen zu erarbeiten.
Der Vorschlag des Experten wird angenommen, die Lösung auf die Zukunft vertagt.
Bis 2030 ist ja noch etwas Zeit.
Zum Lokalaugenschein etwa einen Kilometer vom Rathaus entfernt fahren natürlich alle mit dem Auto, eine Kolonne von fünf Fahrzeugen (davon zwei elektrisch). Begründung: Die eng befüllten Terminkalender ließen es nicht zu, das Rad zu nehmen. Der interessierte Bürger fährt trotzdem mit dem Fahrrad hin. Und ist als erster vor Ort.
In Niederösterreich gehen die Uhren halt anders. Zumindest in den Amtsstuben.
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